Gedankenfreibank Notschlachtung: BRAVO-Goths und coole Sprüche

Photobucketachdem nun auch die letzten Kellerkiste ausgeschüttet und deren modrig klamme Pappe wieder aus der Wohnung geworfen worden war, fand ich unter den Trümmern ein Dokument längst vergangener Zeit.

Man frage mich nicht, wie ich zu jenem Ausschnitt gelangte. Wahrscheinlich stahl ich es einem Teeny oder tauschte es gegen Kaugummi. Vielleicht wurde es mir auch von Pfadfinderinnen geschenkt, aus Dank darüber, dass ich deren komplettes Kekslager leergefressen habe. Oder man bewarf mich damit, als ich nach bestandener Facharbeiterprüfung mit Goth-Punk-Stachelkopf das Berufsschulgebäude verließ.
Doch Fakt ist, diese vier Seiten einster BRAVO-Lektüre lagen mir nun zu Füßen und lüstern rekelte sich die lila Überschrift vor meinen Augen:

Szene-Trend: »Wir sind Gothics!«

Eingekeilt wurden die vier jungblütigen Gothic-Azubis: Peter, Julia, Vroni und Olli von illustren Nebenartikeln. Welche vor der Einführung des Euro warnten und auf die Erwartungshaltung von Ecstasy Lust machen. Oder war es umgekehrt? Egal. Zudem lud eine Coole-Sprüche-Liste zur Modernisierung und exorbitanten Bereicherung des Wortschatzes ein.
Und ein zur Abwechslung einmal interessanter Artikel: Der neue Wahnsinn – Laserpointer. Die Warnung vor dem Funkellicht in deutschen Discos. Nun, geschätzte Cyber, damit ist es amtlich. Licht und Club, das ist eine gefährliche Mischung. Und bei eurem Trancegefuchtel ist die Gefahr der Sachbeschädigung sogar um eine erhebliche Chaos-Variable größer. Auch wenn ich zugeben muss, dass dem Opfer dann wenigstens für den Rest des Abends der Anblick eurer Schlauchköppe erspart bleibt.
Doch bleiben wir einmal sachlich und wundern uns über den Weitblick der BRAVO. Seit Leonardo da Vincis Skizzen erlebte ich kein Druckwerk von solcher Weitsicht und treffgenauer Zukunftspekulation mehr. Laserpointer als neuen Wahnsinn in Clubs…und das bei einem Artikel über neue Gothic. Im vorigen Jahrtausend! Bemerkenswert und definitiv knallhart wie selbstlos recherchiert worden.

Was man von den vier jungfräulichen Frohsinnsgothgestalten nicht gerade behaupten kann. Denn… Peter, Julia, Olli, Vroni? Also bitte? Was sind das denn für Teen-Goths. Wohl eher Amateure, Ungruftige ihresgleichen. »Dark, Darker than Black and Darkest Desire«, »Black fallen Angle of Sadness«, »Lord Blutengel« und »Miss blutige Träne Mätresse« bitte, sonst glaubt denen doch keiner die Zugehörigkeit. Schließlich gab man sich auch schon in der präfacebookischen Menschheitsepoche untereinander alberne Namen.
Doch wollen wir diese einmal zu Wort kommen lassen. In diesem Sinne: »Wir Sie sind Gothics!«

Sie tragen schwarze Gewänder, spitze schwarze „Pickers(sic)“-Schuhe, alten Silberschmuck und schminken sich dick mit lila und kalkweißem Makeup.

Schwarze Gewänder und Silberschmuck? An Goths. Macht keinen Mist, wie verrückt ist das denn. Geradezu sensationell. Allerdings…nun, ich habe zwar keine Ahnung, wie und vor allem warum man sich mit Lila und Kalkweiß dick schminken sollte, auch weiß ich nicht was »Pickers« sind. Pickers wie Snickers? Mit ganzen Schnallen anstatt der ganzen Nüsse? Oder ist der Picker der Sneaker des Anstandsgoths. Das Utensil, mit dem man auch Morgen noch kraftvoll zubeißen kann und mit dem es auch wieder mit dem Nachbarn klappt?
Ich weiß es nicht, doch eines ist sicher. Pikes wurden damit definitiv nicht gemeint. Denn schaut man sich das stimmungsvoll geladene Gruppenbild der vier beseelten Trendsetter einmal genauer an, so findet man, neben der vermissten lila-weißen Schminkobsession, keinen einzigen Spitzfuß. Nur diese klobigen rundgelutschten Stahlwerkstreter. Oder zumindest Modelle, die sich dafür halten. Bravo, BRAVO…

Sie sammeln Kreuze, alte Hexenbücher, schreiben Gedichte und feiern bizarre Partys, auf denen düstere Musik von Type 0 Negativ, The Mission, Silke Bishop sowie Depeche Mode und Metallica läuft. Ihre Lieblingstreffpunkte: alte Friedhöfe.

Nun, jedem sein Hobby. Aber wer sammelt bitte schon Kreuze und alte Hexenbücher? Ist das ein leichter Anfall von dissoziativer Identitätsstörung. Oder wie soll man es als Ausstehender deuten, wenn sich dunkle Düstergestalten voller Andacht staubige Schmöker mit heidnischer Kunst und Kunde in die Klischeeregale stopfen, von denen zeitgleich jenes Symbol baumelt, dass hunderte jener Verfasserinnen zum heiteren Grillabend karrte. Oder zum christlichen Badespaß im nächstgelegenen Gewässer mit einer Mindesttiefe von zwei Metern einlud.
Leute…ich bewahre meine Sammlung von HJ-Dolchen sowie das KZ-Zahngold auch nicht neben dem Tagebuch der Anne Frank auf. Das hat was mit Pietät zu tun. Zumindest liegt beides in zwei getrennten Kartons.

Und warum ist das Schreiben von Gedichten als Goth ein erwähnenswerter Punkt. Selbst zu meiner Zeit, als ich in postpubertären Verwirrungen zum theatralischen Wort in Versform griff und Liebeskoller-Schnösel-Poesie verbrach, protze ich nicht damit. Selbst wenn es dann im Zillo oder Orkus der spottenden Allgemeinheit vorgeführt wird, derartiges schickt man unter Pseudonym und gibt damit nicht an. Zumindest unterhalb einer damit erzielten Einkommensgrenze von 50.000€ …pardon DM… im Jahr.
Doch wer auf seinen bizarren Partys in Depeche Mode und Metallica einen Grad an Düsternis erkannt haben will, der ist auch stolz auf sein Schaffen von Dilettanten-Klischee-Prosa.

Gothics sehen aus, wie die Gruftis aus den frühen 80er Jahre, wollen aber mit ihnen auf keinen Fall verglichen werden. „Wir wollen nicht schocken, wir sind auch nicht cool.“, sagt die 17jährige Julia aus München.

Da setzte ich nun schon fast zum Lästern an und muss dennoch innehalten. Denn was ist das. Etwa neues Wissen? Längst vergessen in den Wirrungen der Euro-Einführung in Quer. Verbarg ich etwa all die Jahre einen Schatz der Erkenntnis im Keller, der sich hiermit als das ultimative Bindungsglied eines seit Jahrzehnten andauernden philosophischen Streites entpuppt. Und damit die Schriftrollen von Qumran als Trivialität in die Ablage P verbannt.
Die Gothics des Millenniums, und wohl auch dessen Erben, sehen nur so aus wie die Grufts der 80er. -Wobei man nicht einmal das von jenen portraitierten Trauergestalten behaupten kann- Wollen aber nichts mit ihren Stilgebern zu tun haben. Wurden sie doch so schnell erwachsen? Kaum geschlüpft und schon verlassen sie das Elternhaus, ohne sich noch einmal wehmütig umzudrehen. Wie deprimierend.
Bleibt nun den verlassenen P1-Generation nur noch die Hoffnung, dass diese neuen Wilden weiterhin uncool und auf ihren Bonbon-Pickers durch das hitzige Leben schweben. Selbst dann, wenn ihnen die BRAVO höchst persönlich Vorschläge für das verbale Coolsein unterbreitet. Wie beispielsweise die Titulierung ihrer Eltern, oder ihres szenetechnischen Elternhauses, als »Kalkleiste«. Wenn mir allerdings ein solcher Aushilfsgruftiger mit kalkweißer Visage und schwarzglänzenden Schlauchbootlippen begegnet, so bestünde das Recht für derartiger Titulierung doch eindeutig auf meiner Seite.

Auch wenn ich noch immer davor zurückschrecke, die Mädels als »Ponies« und Kerle als »Lappen« zu titulieren. Selbst wenn es meinen Coolheitsfaktor dadurch immens steigern würde und ich mit derartigen Lautgebilden für mehr Akzeptanz im Unterricht sorgen würde. Und auch auf die Gefahr hin, dass mir dann der Spruch: »Na, wieder auf dem Ponyhof gewesen, du Jammerlappen.«, für jeden aus dem Bordell schlürfenden Sozialversagen, recht sympathisch werden würde. So…nein, das Risiko ist zu groß. Am Ende würde ich dann nur versuchen, »mich an einen Rollschuh ranzuschmeißen«. Würde nur voll »den Rap bringen« und wäre dann von dem »Touchdown« sowas von »down low«, weil das »Pony« nur noch meinte „Komm »Kalkleisten, mach´n Schuh«“. Dann »lass ich es mal lieber stecken«. Bevor mir dann noch »ein Schuh gemacht« wurde und ich mir den Pike wieder aus dem Hintern ziehen muss. Ist ja nicht jede Stute »bitchig«. (Die Übersetzungen entnehme man der BRAVO-Redaktion)

„Gothics sind romantisch und religiös. Wir interessieren uns fürs Jenseits und diskutieren deshalb viel über den Tod und was danach kommt. Manchmal sitzen wir auf dem Friedhof vor alten Gräbern, zünden Kerzen an und denken einfach an die Toten! Aber wir sind keine Satanisten, denn wir lesen die Bibel!“

Ja, toll. Wie niedlich. Oder? Nein, hier offenbart sich schon der fiese Charakter, sodass jeder empört vor dem Monitor aufzuspringen und laut »Faschist« in das fache Gerät zu rufen hat. Das ist gelebter Epochenrassismus. Jawohl. Alte Friedhöfe, alte Gräber…am Ende noch alte Kerzen. So etwas gehört verboten. Elender Jahrgangschauvinismus. Nein, das hat es zu meiner Jugend nicht gegeben. Wir lungerten ganz sozial auch auf neuen Friedhöfen. Und banden die Verlängerungskabel zu unseren Nachttischlampen auch einmal um neue Grabsteine. Oder warfen eingeschaltete Taschenlampen in frisch ausgehobene Gruben. Ein Akt der Sozialisierung mit der Moderne.
Und was soll der Blödsinn mit dem »Denken einfach an die Toten« Auf alten Gräbern alter Friedhöfen. Natürlich. An wen wollt ihr da denken. Und vor allem an was wollt ihr da denken? Als die schon gedankenlos vor sich hin moderten ward ihr noch flüssig. Wenn überhaupt. Oder eure älteren Geschwister klebten noch in Stoff und Taschentuch. Also kommt hier mal nicht so andächtig treudoof fromm daher. Und von wegen »Keine Satanisten, weil ja jede Nacht der Arsch beim Schlafen auf der Bibel liegt« LaVey, der alte Teufelskerl, hätte euch sicherlich ganz nette Bibelstunden geben können.

Julia und ihre Gothic-Clique Vroni (14), Peter (16) und Olli (15) tragen, wenn sie in die Schule gehen, ganz normale, meist schwarze Klamotten. Peter: „Wir wollen nicht auffallen. Nur wenn wir uns nachmittags oder abends treffen, ziehen wir unsere Gothic-Outfits an. Raves und Discos lehnen wir ab – wir wollen unter uns bleiben.“.

Mal ehrlich, …wen zum Henker interessiert eigentlich immer das Alter. Oder soll es wirklich von einer granaten Recherchearbeit zeugen. Mir persönlich ist es scheißegal, ob klein Gotenpups gerade 14 wurde oder der alte Sack schon 82 ist. Mir kommt hier weder Welpenschutz noch Respekt vor dem Alter ins Haus. Also spart euch doch einfach die Tinte.
Aber ein wenig Mitleid habe ich schon. Wollen sie doch nicht auffallen und sind dennoch so überaus auffällig in den BRAVO-Artikel gezerrt worden. Schön ist das nicht. Schön ist überhaupt deren Einstellung nicht. Sich erst im Stolze der Überzeugung als Feierabend-Goth wertschätzen und dann noch unterschwellig gegen die Clubkultur wettern.
Was glauben die denn was sie sind. Kommen hier daher, beleidigen Naturreligionen mit Kruzifixen, benehmen sich wie trotzig elitäre Wochenendgoten, faseln den Leser einen solchen Knoten ins Hirn und nun wird auch noch auf den einzigen Kern geschissen, den jene Szene wohl jemals wirklich gehabt hat: Die Musikkultur in ihrer Auslebung.
Aber sie wollen ja lieber unter sich bleiben. Recht so, nicht dass denen noch der schwarze Pudel zum Dank vor die Haustür kackt. Kein Wunder, dass die mit dem 80er-Ursprung nichts zu tun haben wollen. Fast schon Hochachtung vor so viel unbewusster Einsicht.

Einmal im Jahr, zu Pfingsten, pilgern Gothics aus ganz Europa nach Leipzig zum mittlerweile traditionellen zweitägigen Wave-Gothic-Treffen. Diesmal werden rund 10.000 Gothics erwartet. Julia: „Auch wir wollen diesmal dabei sein.“.

Ich weiß ja nicht, in welcher Zeitsphäre die leben. Doch bei mir besteht ein Festival, das von Donnerstagnacht bis Montagabend andauert, immernoch aus mindestens vier Tagen. Oder dürfen die Kleinen nur am Wochenende zum spielen freigelassen werden.
Nur, wenn ich denen einen Rat geben dürfte. Sie sollten zuhause bleiben. Denn wer mit dem Ursprung nichts zu tun haben will und zudem noch unter sich bleiben will und wer ohnehin nichts auf Clubs gibt, der kann seine Gedichte ruhig weiterhin bei Kerzenschein auf alten Gräbern in alten Friedhöfen ins Poesieheft kritzeln.
Denn Fakt ist, wenn man eines auf dem zweitägigen Viertagefestival der Leipziger Großraum-Konzerte und Clubabende nicht ist, dann unter sich. Und das war auch schon Mitte der 90er so und ist es jetzt erst recht.

In diesem Sinne: Laßt mal stecken und macht ´nen Schuh.

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