Gothic Friday 2016 – Brachiale Romantik

Ich schätze, es liegt daran, dass ich schon immer Einzelgänger gewesen war. Eremit, solange ich mich zurück erinnern kann. Wenn gleich ich kein Einzelkind gewesen war. Und natürlich auch zu frühster Zeiten mit Kinder agierte, doch eben nur als Reaktion. Nie war ich die treibende Kraft dahinter. Ein Wesenszug, der mich bis heute begleitet. Klar, Freunde gab es auch. Zwei bis drei, handverlesen. Aber ich fühlte mich schon immer in meiner Phantasie wohler als in der Masse. Geriet als Kind mehr ins Grübeln, Philosophieren -sofern man das zumindest von einem Kind sagen konnte-, mit anderen Worten, die fiktive Welt in meinem Kopf war mir damals das liebste Refugium. Und diese Welten waren ausreichend. Seien es die massiven Schneegebirge im winterlichen Garten. Der mannshohe Brennholzstapel im Hinterhof, der als abenteuerliche Steilwand diente oder die verwilderte Wiese als ausladender Dschungel. Natürlich nicht für mich, sondern für diverse Spielfiguren. Aber was interessiert das schon die Phantasie eines Kindes. Besonders zu Zonezeiten, als die Gedanken das Nichthaben kompensierten. Oder die Höhlenwelten im Zimmer. Bzw. die Ruinenstädte mit Kampfläufern aus Legosteinen; Stichwort: Westverwandtschaft.

 
Virtuelle Wanderungen.

Im Lauf von Stimmbruch und dem Klauen von Pornoheften verlegten sich diese Welten von haptischen Bauten hin zu 16farbiger VGA-Pixelgrafik mit C=64-Gedudel. Zu SVGA, mit PC-Speaker, ersten Polygonen mit Soundblaster und hin zu der heutigen Virtualität, die definitiv schon als Sur- oder Hyperreal gelten kann. Unterlegt im orchestralem Surround Sound.
Und dieses ist bis heute mit einer der drei wichtigsten Rückzugsorte. Zumindest phasenweise. Verbrachte ich einst 40-Stunden des Wochenendes dort drinnen oder gut und gerne mal eine Woche am Stück, so gab es auch Zeiten der völligen Abstinenz; und das für Monate bis Jahre. Aber dennoch, Zocker bleibt Zocker. Und wenn sich die Destruktivität nicht gerade so tief hängt, dass es mir selbst dahingehend vergeht, so bin ich noch immer leidenschaftlich in der Virtualität unterwegs.
Bin mit Begeisterung der Krieger und Kämpfer, der Stratege und Erbauer, der Meuchler und Schlechter. Oder manchmal auch der Held. Und ich fühle mich dort wohl, in Utopien und Dystopien gleichermaßen. Tauche ein und verschmelze psychisch mit dem Charakter. Lebe in der Welt und atme in diese hinein. Ob nachts in ausgebrannten Ruinen oder per Sportwagen unter grellem Großstadtlicht. Was die Realität nicht bereithalten kann, das bieten diese Welten. Und es ist allzu angenehm, wenn das Hier und Jetzt einfach in der Unwirklichkeit verschwindet, während dieses unwirkliche zur Wirklichkeit wird. ….´cause war, war neves changes.

 
Rare Rückzugsorte

Lieblingsorte und Sehnsuchtsziele? Natürlich gibt es diese auch in der Realität. Und es sind diese Momente, die sich jeder vorstellen kann. So wie einst, ich weiß nicht mehr genau wann, muss so zwischen 2003 und 2005 gewesen sein, eine Woche an der Nordsee. Das sitzen auf den schroffen Steinen und der Blick in die seichten Wellen. Wie diese energisch das Ufer umspülten und in ein Rauschen versetzen, das trotz seiner Dominanz von angenehmer Monotonie gewesen war. Fast schon wie ein Mantra. Und wenn man dort sitzt, stundenlang und einfach ins Nichts schaut. Einfach nur den Horizont entgegen und fast schon über diesen hinaus. Dann wird das Denken irgendwann flügge, wird umspült von den Wellen und treibt mit diesen auf das Meer. Immer weiter weg. Und man darf einfach nur Mensch sein. Muss nicht funktionieren, leisten, aushandeln. Vereinbarungen treffen und schaffen. Sondern einfach nur leben. Einfach nur sein und einzig den rauen Wind im Gesicht spüren.
Oder das Liegen auf der Wiese. Wenn man mit der Hand über das Gras fährt. Und sich fragt, wann man zu Letzt wirklich bewusst die Blätter gefühlt hat. Die Sonne einem auf der Haut brennt. Und man gar nicht anders kann, als dieses zuzulassen. Einmal keine Kälte existiert, die einen zittern lässt. Sich verkriechen lässt und das körperliche Unwohlsein auf den Geist überträgt. Keine Windböen, die einem zeigen, wie schmächtig und ausgeliefert man doch gegenüber der Natur ist. Oder kein Regenschauer… Wenn man einfach so daliegt, die Wärme durch die Haut dringt und sich wie ein Balsam auch über das Denken legt. Das stechen, jucken und brennen der Gedanken in wohlwollendes Nichts verwandelt.
Oder man am See sitzt. Oder auf der Brücke über dem Fluss. Über das Geländer gebeugt. Und dem Treiben der Enten zuschaut. Im Wasser die Einfachheit des Lebens wiedergespiegelt sieht, die man selbst so schnell verlernte. Verlernen musste.

Für mich gibt es keine solchen Orte in ihrer exakten Physik, sondern nur bezogen auf den Moment hinter der Stirn.
Aber diese Momente sind selten. Und aufgrund ihre Seltenheit zu trivial, als das ich denen irgendwelche Priorität setze. Befinde ich mich an solchen Orten, so ist die Erinnerung an den vorhergehenden längst zu Staub zerfallen. Aber es gibt sie. Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass ich vieles gebe, um diese für die Endlichkeit des Augenblicks so lange festzuhalten, wie es nur möglich ist. Natürlich sagt man, dass das Seltenene eben dadurch kostbar wird. Aber das ist nur das Geschwätz jener, die es im Überfluss haben…

Vor allem mein liebster Ort. Und auch dieser ist flexibel. Denn er war schon Parkbank, war Zugabteil, war Sofa, war Bett, war Dusche oder Badewanne. War von alledem verschiedenste Ausführungen, an verschiedenen Orten. Und war nur Mittel zum Zweck. Denn es war wirkliche Romantik. Mit verschiedenen Gefährtinnen. War, dass ich mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag und sie somit vor mir nicht ihr Lachen verbergen konnte. War, das sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß lag, und ich in Augen blicken konnte, die nicht durch mich hindurchgingen. Ihr durch die Haare strich oder mit Handrücken und Fingerkuppen sacht über Stirn und Wange fuhr. War, dass man nebeneinander saß. Nicht wie fremde, sondern wie jene, die schon mehr gegenseitige Nähe erkundeten, als man durch Kleidung überhaupt spüren kann. War, dass man zusammen lag. Mein Arm über ihren Brauch und das Gefühl ihrer Brust in meiner Hand. Und die Körper so nahe, dass ich den Duft ihrer Haare riechen konnte. Die Form der Strähnen sehen, die Fältchen im Mundwinkel, wenn sie grinste. Oder einfach nur noch den Geruch von Sex, wenn sie schlief.
Oft wünscht der einsame Romantiker, dass es seit Jahren einzig mit der einen sein sollte. Der einen Partnerin. Oft wünscht der maskuline Triebhafte, dass es viel häufiger mit den verschiedensten Frauen sein sollte. Und immer weiß ich, dass beide Recht haben. Wer, das ist mir schon lange egal. Denn bei dieser Realität verfluche und bedauere ich jeden Moment, der diese weiterhin rar erscheinen lässt.
Und dennoch, dieses ist die Antwort, die ich auf jenen Aspekt: „Oder aber die Sehnsucht lenkt Euren Blick in die Ferne, an einen bestimmten Ort […]“ geben würde. Der Blick auf die Nähe, in aller Ferne. Sei es in Richtung Vergangenheit oder in Richtung Zukunft.

 
Routiniertes Refugium

Der momentan wirklich einzige Rückzugsort innerhalb der Realität ist das Fitnessstudio. Der Ort, an dem ich kämpfen und gleichermaßen flüchten kann. Vor dieser Existenz, vor dieser Gesellschaft, dem Umfeld, der Stadt, vor mir und dem ganzen Rest.
Viermal pro Woche. Manchmal fünf. Abtauchen in das, was uns eigentlich ausmacht und was wir vergessen, während wir in der Tram stehen oder hinter dem Schreibtisch sitzen. Während wir über die Autobahn rasen oder uns bei irgendwelchem Alkohol die Banalität unserer Zahnradfunktion innerhalb der Arbeitswelt an den Kopf werden. Uns über unsere Ersparnisse definieren oder über unseren Urinstinkt als Brüter.

Im Studio kann ich etwas anderen sein. Kein Denker, denn zum Denken habe ich dort keine Zeit, da ich mich auf das Training konzentrieren muss. Und kein leerer Körper. Da es einzig die Erwärmung ist, die sich nicht in aller Härte in die Muskulatur brennt. Der Rest ist Schmerz. Positiver, guter, wohltuender. Da diesem Leistung innewohnt. Willen und Kraft. Der niedrigste Trieb, das animalischste Argument des Stärkeren. Der maskuline Kitsch. Und doch ist es das nicht für mich, sondern mehr.
Es ist der Ort, an dem man kurz für 90 Minuten auflebt, abschaltet. Spürt, dass man lebt. Weiß, dass man lebt. Und wenn das Eisen auf dem Boden aufschlägt. Wenn man dasteht und ein kalter Schauer der Anstrenung vom Hirnstamm über das Rückenmark zu den Waden kribbelt. Das Eisen auf den Boden krachte und diesen vibrieren ließ. Wenn man die Muskeln anspannt und diese vor Belastung zu krampfen drohen. Wenn man einfach das Blut fühlt, das den Muskel aufpumpt wie eine Wärmflasche… dann hält man für ein bis zwei Sekunden inne und lässt das Ja zum Leben durch das Denken schießen… und denkt einfach: „Ey… Leck mich am Arsch.“

2 Gedanken zu „Gothic Friday 2016 – Brachiale Romantik

  1. Wow….. die Passage über das Zusammensein mit deinen Gefährtinnen…. ich bin gerührt…. habe Tränen in den Augen… Das hast du so wunderwunderschön geschrieben…. diese Nähe, diese Innigkeit….

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