23ter Juni 2010 – Ich tröte, also bin ich

Schweigen über Schweigen. Warum, Wieso und vor allem Weshalb? Bin ich in ein Land ohne Stromanschluss ausgereist? Wurde ich bei einem Terrorangriff auf eine McDonalds-Filiale mit zerrissen? Eine Vergiftung durch BSE-Soja oder Gammeltofu? Oder stecke ich gar im WM-Fieber?
Mitnichten. Ich arbeite wieder. In Ordnung, definiere »Arbeit« Es ist keine kapitalbringende Tätigkeit, falls man das meint. Wie auch, wenn man sich nur für brotlose Künste interessiert und sogar lustig genug drauf ist den Spaß zu studieren. Aber um einmal ein geflügeltes Wort von mir aus Akademiezeiten zu reaktivieren: »Ich habe Prioritäten verlagert« Kenner meiner Person wissen nun was gemeint ist. Personen in Unkenntnis werden es bald wissen. Sofern sie jetzt nicht schon die Lust am Lesen verloren haben.
Ich überarbeite mein erstes Buch…mal wieder. Und das gute dabei ist, dass ich nach all den Jahren endlich mit so etwas wie System und vor allem Semiprofessionalität an die Sache heran gehe. Also richtig wie die Erwachsenen. Auch wenn sich nach und nach die Erkenntnis in meinem Kopf festsetzt, dass es einfacher gewesen wäre das Buch zu löschen und komplett neu zu schreiben. Aber anderseits, wo bleibt denn dann der Sinn für´s Abenteuer. Und vor allem, wo bliebe dann der Wille. Das Ende des Monats setzte ich jedenfalls als »Deathlinie« wie es so schön im Weltmannsenglisch heißt. Das deutsche Äquivalent dazu fällt mir spontan nicht ein.
Jedenfalls frisst das Zeit. Mehr als man denkt, ahnt und glaubt. Manchmal sitzt man stundenlang vor einem Absatz. Tippt, löscht, recherchiert und grübelt ununterbrochen nach dem richtigen Wort. Denn zu zufälliger Platzierung von Worten lasse ich mich noch nicht hinreißen. Oder wie sagte Mark Twain so treffend: »Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen« Somit zeigt sich immer wieder der Segen und Fluch hinter dem Fundus der deutschen Sprache. Und vor allem das Genie und der Wahnsinn hinter dieser.

Man darf sich jetzt aber fragen, warum nun dieser Text entstand, wenn ich doch so sehr in die Arbeit vertieft bin. Die Sache ist die, dass ich ohne Konzentration nicht weit komme. Und mir diese soeben von trötenden Schwachmaten entzogen wurde. Diese ignoranten Vollprolls, die in Nachtwächtermanier zu dieser Uhrzeit [23:30] durch die Straßen schlürfen. Nur verkünden diese nicht die Uhrzeit, halten nach Feuern ausschau oder erfüllen ihre Anwesendheit mit irgendeinem Sinn für die Allgemeinheit. Nein. Diese haben nicht anderes zu tun, als ihren bier- und chipsgeschwängerten Atem durch die Löcher von Tröten und Pfeifen zu gasen. Und irgendeine sportnationalistische Dekadenz zu lallen. Wie gesagt: Um diese Uhrzeit. Nicht dass Morgen eventuell Menschen früh aufstehen müssen und als Schichtarbeiter zu ihren Berufen eilen, in denen ein gewisses Maß an Verantwortung eine gewisse Menge an Schlaf voraussetzt. Doch nicht hier im Osten, da lungert doch eh jeder auf seinem ALG II-Reichtum vor dem Fernseher oder auf der Fensterbank. Also was soll´s. Benehme ich mich kurz wie ein egomanischer Volltrottel und übe mich in der Kunst der degenerierten Lärmbelästigung sowie nächtlicher Ruhestörung. Kann ja eh jeder ausschlafen. Was mich dabei nur wundert, ist, dass ich auch eine Frauenstimme vernehme. Ein Kastrat kann es ja nicht sein. Aber dass das edle Geschlecht sich auch zu diesen Niveaufälle hinreißen lässt, zwingt einen schon zu einem bitteren Grinsen.

Zugegeben, vielleicht lasse ich jetzt auch zu sehr den Misanthropen heraushängen. Geht es doch um die Weltmeisterschaft des Weltsportes schlechthin. Und die Ausrufung des kulturellen Ausnahmezustandes wurde auch schon von offizieller Stelle bestätigt. Und vielleicht sollte man die Kinder auch einfach spielen lassen. Aber was soll der Scheiß. Das ist nur Fußball. Elf überbezahlte Exzentriker rennen einem luftgestopften Lederfetzen hinterher. Oder Gummi oder Synthetik oder weiß der Geier, ist mir auch egal. Ich weiß nur eines, dass ich diese Art von Fußball mit all der dahinter stehenden Maschinerie verachte, falls das noch nicht aus dem bisherigen Kontext hervorging. Und solches Benehmen… Sagen wir es so, ich fühle mich in meinem Menschenrecht zur Gleichgültigkeit verletzt, wenn diese Schwachmaten in meine Gedanken tröten. All diese schwarz-rot-goldenen Gedächtnisstützen für Freizeitpatrioten, die in Fenstern hängen und an Karrenblech wehen, kann ich ja noch erdulden. Aber nicht diese Tröten. Vor allem dann nicht, wenn morgens der bewegungsfaule Hausmeisterdienst endlich zur Pause abtritt und mich endlich mit dem Laubgebläse in Ruhe lässt. Aber gleichzeitig ein Wanst diese…ich wiederhole mich ungern…Tröte aus Daddys Mundwinkel reißt, während dieser den 1:0-Rausch ausschläft. Diese abwischt und nun unkoordinierte Töne entlockt. Neben meinem Fenster.
Aber so ist er wohl, der Deutsche oder Fußballfan oder der Mensch. Ölpest, Wirtschaftskrise. Hunger, Elend, Artensterben, Regenwaldabholzen und all das Querulantengetue das einem die Stimmung vermiesen kann. Drauf geschissen. Hauptsache man hat etwas zum Tröten. Dann geht es einem gut. Was soll der Pessimismus, wenn ein Rudel deutschstämmiger Werbefressen und Millioneneintreiber mal zielsicher an einen Ball treten konnte. Wenn das kein Grund zum Jubel ist, was dann. Sorgen um die Existenz oder Debatten über den Sinn des Lebens kann man auch Morgen noch führen. Oder lieber erst Übermorgen, denn der Alkoholpegel in Blut und Hirn sinkt ja doch nicht so schnell. Was ist schon die Ehre der Dichter und Denker, was der Ruhm der Erfindungen, wenn das eigene Land ein Tor geschossen hat? Ganz klar: Nichtigkeit, außer ersteres war einmal in der BILD zu sehen (oder für Intellektuelle auch zu lesen)
In Ordnung, nun ist aber Schluss mit Lustig…die Freunde Spacko ziehen soeben blökend an meinem Fenster vorbei und ich überlege, ob ich mich zur einzig vernunftbegabten Reaktion hinreißen lasse; nämlich dieses zu öffnen und »Fresse« zu brüllen…

…den Gnadenschuss setzen darf man ja nicht.

2 Gedanken zu „23ter Juni 2010 – Ich tröte, also bin ich

  1. Hast du dich hinreißen lassen? Die WM ist ja nun vorbei und vielleicht kehrt ja die gewünschte Ruhe ein, die Du dir so wünschst. Ich für meinen Teil habe partizipiert und mich zwar neben den üblichen Exzessen bewegt (kein Public Viewing, kein Alkohol und kein Gejaule), aber dennoch einen Teil der Spannung aufgenommen. Das Spiel England – Deutschland, das ich in einer englischen Vorort-Kneipe verfolgt habe, kommt da schon einer Nahtoderfahrung sehr nahe :)

  2. Nein, habe ich dann nicht. Ich erinnerte mich wieder daran, dass eine Aktion immer eine gleichwertige Reaktion verursacht. Und dazu hatte ich erst recht kein Verlangen.
    Aber schon seltsam. Betrachtete man sämtliche sportliche Weltmeisterschaften und Olympiaden, so scheint allein Fußball das Ereignis zu sein, das die Nation zum Hirntod verpflichtet oder alleine die Hirntoden anspricht.
    Man kann es ja verfolgen. Von mir aus. Da habe ich ja nichts dagegen. Auch mich interessierte es am nächsten Morgen wie sich England schlug. Aber solcher Zirkus ist für mich eine Beleidigung des Sports und vor allem der anderen Sportarten. Besonders dem des Frauenfußballs…

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